Schwarmintelligenz & Wikipedia

Das Netz und die damit verbundene Schwarmintelligenz wird seit ein paar Jahren gefeiert. Und in der Tat, es ist unglaublich wie schnell und präzise eine Horde übers Netz verbundener Menschen Sachen in Bewegung bringen kann. Sei es bei Thema Abmahnungen, sei es beim Thema Netzsperren. Es scheint so, dass die digital natives die kritische Masse erreicht haben und an Einfluss gewinnen. Dabei sind die Zahlen, die ich mir gleich aus den Fingern sauge, gar nicht mal so imposant.

Aus den Fingern muss ich sie mir saugen, weil es immer noch keine verlässlichen Zahlen zum Thema Blogs, Twitter und anderen Tools gibt. Klar ist: laut ARD/ZDF Onlinestudie, sind ca. 43 Millionen Menschen in Deutschland online. 8% nutzen ab und an Weblogs. Das waren also knapp vier Millionen. Aktive Weblog Inhaber (ein Update im Monat) gibt es aber vermutlich deutlich weniger, ich schätze so zwischen 100.000 bis 200.000 User. Bei Facebook sind zur Zeit ca. 3 Millionen aktiv, dabei ist aber nicht klar, wer dort wirklich kommuniziert und wer dort nur seinen Namen geparkt hat. Wenn man hier wieder die hoch gegriffene 10% Regel nimmt, dann wären das 300.000 die aktiv auf Facebook unterwegs sind. Ich tendiere allerdings eher dazu, die Zahl sicherheitshalber zu halbieren. Bei Twitter habe ich keine genaue Zahlen. Die grobe Schätzung sagt 250.000, von denen 90 bis 95% nur mitlesen oder einen Account geparkt haben. Macht ca. 15.000 aktive User.

Zwei Zahlen fand ich in diesem Jahr interessant. Zum einen die 134.015 Menschen, die die Onlinepetition gegen die Netzsperren unterschrieben hatten, zum anderen die 229.464 Leute, die die Piratenpartei bei der Europawahl 2009 gewählt haben. Beides sind sehr netzaffine Themen und zum damaligen Zeitpunkt gab eine normale Berichterstattung über diese Themen. Wenn man alle Zahlen mal schüttelt, dann kommt man auf ca. 150.000 bis 180.000 User, die täglich und aktiv in Deutschland die Netzszene beobachten und an ihr teilhaben.

Multiplikatoren gibt es allerdings noch weniger. Das sind jene User, die über einen erheblichen Einfluss verfügen, weil sie entweder bei Twitter oder in der Blogszene über viele Leser, RSS-Abonnenten usw. verfügen, und sich über die Jahre einen guten und verlässlichen Ruf aufgebaut haben. Ich hatte ein paar Leute angesprochen, und sie gefragt, wie hoch ihrer Meinung die Zahl der Multiplikatoren innerhalb der digital natives wohl ist. Die Antworten streuten von 1000 bis ein paar Dutzend. Ich selber vermute, dass es keine 300 sind. [Wobei man die Gamerszene schwer beurteilen kann, weil sie noch unorganisierter ist, als die Blogszene, dazu die Hacker-, Gagdget,- usw. Szenen]

Wozu all diese Zahlen? Weil sie das widerspiegeln, was auch bei Wikipedia los. Es wird von vielen genutzt, aber wenige kümmern sich darum, dass auch was passiert. Das hat wenig mit Schwarmintelligenz zu tun, sondern eher damit, dass sich im Verlauf einer Zeit eine Anzahl von Leuten findet, die mittels Einsatz, Intelligenz und Wissen zu Multiplikatoren werden, oder, wie bei Wikipedia genannt, Administratoren. Die Multiplikatoren setzen keine Trends (höchstens mal ein Mem), aber sie beschleunigen die Verbreitung von Trends, bzw. setzen ihnen ein Ende.

Doch während die Multiplikatoren der Webszene weiter von den anderen Usern, also der Schwarmintelligenz, überprüft werden (Fehlinformationen etc.), passiert das bei Wikipedia nicht. Hier hat sich ein eigenes, extrem komplexes (Relevanzkriterien) und undurchschaubares System etabliert, dass auch auf sich selbst aufpassen soll. Die Öffentlichkeit wird zwar de facto nicht ausgeschlossen, kann aber am internen Prozess von Wikipedia nicht teilhaben. Nicht mal, wenn man sehr viel Geld spendet. Aber das kennt man ja von Wahlen.

Das Problem von Wikipedia ist ja nicht, dass sie zu schlecht wären. Im Gegenteil. Das Problem ist, dass sie enzyklopädisch besser sein will als Brockhaus und Co, und sich dafür aber die Maßstäbe der etablierten Lexika angeeignet hat. Das ist nicht zwingend ein Widerspruch in sich, aber offenbar hat man vergessen a) woher das Wissen, b) das Geld und c) der Traffic kommt. Nämlich von den Usern. Dazu kommt, dass Wikipedia mal das Weltwissen sammeln wollte. Dazu gehören kaum gelesene Einträge über Zwerg-Pinscher, aber eben auch Themen zur Zeitgeschichte wie „Zensursula“ usw. Das scheint man aber vergessen zu haben, auch weil die Kontrolle von außen nicht mehr als wichtig erachtet wird, sondern weil man einem Humboldtschen Anspruch hinterher hechelt.

Wikipedia hat dabei ein interessantes Problem mit der Schwarmintelligenz. Es gibt nicht wenige, die behaupten, dass sich innerhalb einer Schwarmintelligenz auf Dauer nur ein spießiges Mittelmaß durchsetzen wird, weil alle Spitzen nach oben, wie auch nach unten, gekappt werden. Klassischer Demokratieprozess, auch das kennt man aus der Gesetzesbildung. Wikipedia sei ein gutes Beispiel, weil sich ein Kontrollsystem etablieren würde, dass sich irgendwann verselbstständigt.

Interessanterweise scheint die Schwarmintelligenz durchaus auch über sehr feinfühligen Kontrollmechanismus zu verfügen. Denn sie schafft es, wie beim Beispiel Wikipedia, auf Probleme reagieren zu können. Eine grosse Masse schafft eine Instanz, überlässt diese Instanz dann wenigen Usern, verliert die Kontrolle, weil die Strukturen verkrusten, aber ab einem bestimmten Moment schaut man mal wieder rein und sorgt für einen Erneuerungsprozess. (Der allerdings noch kommen muss). Es ist also ein Unterschied, ob man etwas macht um der Masse zu gefallen (Politik, Wikipedia), oder ob die Masse etwas aus sich heraus macht, was ihr gefällt (Internet-Mem, Kontrolle, Kritik).

Das finde ich gerade extrem spannend zu beobachten, weil es durchaus etwas neues und so noch nicht vorgekommen ist. Bleibt allerdings abzuwarten was passiert, wenn die Masse an sich und damit auch die Menge an verlässlichen Multiplikatoren größer wird. Ich bin da recht positiv gestimmt, weil sich zeigt, dass es viele Multiplikatoren geben muss, damit Verkrustungen ausbleiben.

6 Antworten zu „Schwarmintelligenz & Wikipedia“

  1. Torsten

    Zu den Relevanzkriterien: Es sind schlichtweg Anhaltspunkte, wann die Kollaboration erfahrungsgemäß funktioniert. Wie Du oben schreibst: nur die wenigsten arbeiten aktiv mit – wenn alle nur lesen, werden Artikel nicht besser. Und Ziel der Wikipedia sind nicht einfach Artikel, sie sollen gut sein.

    Ein sehr schönes Beispiel ist die oft gescholtene Löschung des Tschunk-Artikels. Ich hätte ihn nicht gelöscht – aber bei den Ausbauversuchen hat sich dann herausgestellt, dass jede Zutat eines Tschunks optional ist. Ein Cuba libre könnte genau so als Tschunk gelten wie ein Caipirinha, wenn man ein paar Mateblätter reinkrümelt. Oder Clubmate statt Cola verwendet.

    Dass das gelöscht wurde, ist natürlich albern, nicht nachvollziehbar. Aber oft genug wird dann so ein unwichtiges Thema, ob denn Salzrand oder crushed ice zum Streitpunkt. Und wenn etwas nicht stimmt, sind die Beschwerden riesig.

    Aktuelles Beispiel: http://julia-seeliger.de/wo-sind-die-relevanznazis/

    Kaum ist ein Artikel nicht mal falsch, sondern unausgewogen, setzt es schon wieder Nazi-Beleidigungen.

    Relevanzkriterien und Umgangston müssen dringend verbessert, der Workflow und die Software umgearbeitet werden. Aber ein wenig mehr Beschäftigung mit den Gründen stünde den meisten Diskutanten gut zu Gesicht.

  2. Gerne gelesen!

  3. […] Schwarmintelligenz & Wikipedia – Irgendwas ist ja immer – Reloaded "Das Problem ist, dass sie enzyklopädisch besser sein will als Brockhaus und Co, und sich dafür aber die Maßstäbe der etablierten Lexika angeeignet hat." […]

  4. ruebe

    Schwarmintelligenz – habe ich mal für eine gute Idee gehalten. Ein einziges Mal habe ich mitgeschwärmt und bei einem Artikel auf wikipedia, bei dem ich einen Detailfehler entdeckt hatte (es war mein Fachgebiet und es war ein eindeutiger Fehler), das Fehlerchen korrigiert. Fünf Minuten lang habe ich mich wohl gefühlt: Hast was beigetragen zum großen Ganzen, so als ganz kleines Schwarmtierchen.
    Dann war der alte Text wiederhergestellt von irgendeinem wikipedia-Admin-Troll.
    Schwarm-Dummheit eben.

  5. […] “Schwarmintelligenz & Wikipedia“ […]