Moderne Stigmata

Gleich zwei Dinge, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, machten heute im Netz die Runde. Zum einen ist da die Konfiszierung Übernahme der Domain nerdcore.de durch die Firma Euroweb. Laut meiner im Moment zur Verfügung stehenden Informationen hat die besagte Firma im letzten Jahr auf einen Text von René aus dem Jahr 2006 (!) reagiert und daraufhin eine Unterlassungserklärung von René verlangt. Warum René nicht reagiert hat (obwohl er viel Erfahrung mit so was hat) und warum Euroweb nicht einfach das Konto hat sperren lassen, kann ich nicht beurteilen.

Die zweite Sache ist ein Text von Stefan Niggemeier, in dem er sich über die Problematik auslässt, dass ein ehemaliger freier Mitarbeiter der „Bild“ sich an ihn mit der Bitte gewandt hat, seinen Namen aus einem zwei Jahre alten Eintrag beim Bildblog zu nehmen. Er hat offenbar Probleme neue Aufträge zu bekommen, weil der Eintrag immer dann vorne bei Google auftaucht, wenn man seinen Namen googelt. Im Grunde ging es im Eintrag vom Bildblog wohl darum, dass der Journalist schlicht weg abgeschrieben hatte. Stefan kommt zum Schluss, dass er den Eintrag nicht löschen möchte.

Beide Beispiele tragen ähnliche Züge. Bei Nerdcore geht es um einen vier Jahren alten Text, dessen Inhalt vermutlich unbeachtet im deep web gelandet wäre, wenn Euroweb ihn nicht wieder hervor gezerrt hätte. Beim Bild-Text geht um ein unschönes, aber im Grunde harmloses Vergehen, das jemanden jetzt nachhängt. In den Kommentaren bei Stefan schreibt Creezy:

Haben wir nicht alle schon in unserem Berufsleben auch immer mal Bockmist verzapft? Von derartigem Ausmaß, dass wir heute sehr sehr froh sein können, dass es nicht in Öffentlichkeit getragen wurde (ja, natürlich auch weil wir das Glück gehabt haben, nicht in/für die Öffentlichkeit gearbeitet zu haben)?

Tom Kummer hat mal sehr viel erfunden, Künstler, Management-Firmen und Verlage belogen, aber da war das Kunst. Helene Hegemann hat vermutlich abgeschrieben, aber da war das auch Kunst. Ein freier Journalist hat abgeschrieben, die Beweggründe sind nicht ersichtlich, aber hier ist es halt keine Kunst, sondern schlampige Arbeit. Der Bildblog-Artikel, so richtig er in dem Moment war, hängt ihm jetzt, so wie es bei Stefan klingt, wie ein Mühlstein um den Hals. Und genauso hängt René eine leichtfertige Beschimpfung nach.

Die Frage danach, ob das Internet bestimmte Dinge nicht besser nach einer gewissen Zeit „vergessen“ sollte, stellt sich aber sowohl im Fall von René als auch in dem des Journalisten. Es klingt „unfair“ wenn ein Unternehmen nach mehr als vier Jahren auf die Idee kommt, dass man irgendwann mal in einem ganz anderen Zusammenhang beleidigt wurde. Es klingt auch unfair, dass man einen Journalisten, der an einem schlechten Tag mal was abgeschrieben hat, damit den Rest seines Lebens verfolgt. Aber es gibt noch eine weiter Facette in der Geschichte. Denn das „Nicht-Vergessen“ des Internets führt auch dazu, dass wir uns immer mehr auf verhärtete Positionen zurück ziehen, um unseren Standpunkt und das, was wir vertreten, nicht nach außen aufzuweichen. Im Grunde schwimmen wir auf Ego-Inseln, die wir uns mit unseren Ansichten und Argumenten selbst gebaut haben und wir verteidigen ihre Grenzen, sobald wir angegriffen werden oder es darum geht, eine argumentative Kehrtwendung zu machen.

David Foster Wallace schrieb mal:

Bei einer sozial verträglicheren Standardeinstellung kann ich meine Zeit im Feierabendverkehr natürlich auch damit verbringen, von all diesen riesigen, dummen, die Fahrbahn versperrenden Geländewagen und V12-Pick-ups angeekelt zu sein, die ihre verschwenderischen, selbstsüchtigen 120-Liter-Tanks leerfahren, und bei dem Gedanken verweilen, dass die patriotischen oder religiösen Aufkleber immer auf den dicksten, selbstsüchtigsten Autos kleben, die mit den hässlichsten, rücksichtslosesten, aggressivsten Fahrern, die üblicherweise in Handys reden, während sie Leuten den Weg abschneiden, um im Stau ganze fünfzig Meter zu gewinnen […]

So zu denken ist meine natürliche Standardeinstellung. Es ist der automatische, unbewusste Weg, die langweiligen, frustrierenden, überfüllten Teile des Erwachsenenlebens zu erfahren, wenn ich mit der automatischen, unbewussten Überzeugung operiere, die Mitte der Welt zu sein, und glaube, dass meine unmittelbaren Bedürfnisse und Gefühle in der Welt Priorität haben sollten.

Allerdings kann man offensichtlich auch anders über diese Art von Situation nachdenken. Immerhin ist es nicht unmöglich, dass einige dieser Geländewagenfahrer in grauenhafte Autounfälle verwickelt waren und davon derart traumatisiert sind, dass ihr Therapeut ihnen die Anschaffung eines großen, schweren Geländewagens verordnet hat, damit sie sich sicher genug fühlen, um überhaupt fahren zu können; oder dass der Hummer, der mich gerade geschnitten hat, vielleicht von einem Vater gefahren wird, dessen kleines Kind auf dem Beifahrersitz verletzt oder krank ist, und er ins Krankenhaus zu rasen versucht und in weit größerer, gerechtfertigterer Eile ist als ich – eigentlich bin also ich es, der ihm im Weg ist.

Im Internet tendiert man gerne dazu, die Welt in Schwarz oder Weiß zu sehen. Ist einer nicht meiner Meinung, arbeitet er bei der falschen Firma, greift man gerne schnell ins große Säckchen der eigenen Vorurteile und sucht automatisch die passenden Argumente raus, die das eigene Weltbild bestätigen. Im Falle des Journalisten reicht „Bild“. Ob der Mann gerne für das Blatt gearbeitet hat, ob er es musste, weil seine Frau oder er selber krank – wir wissen es nicht. Die Stigmatisierung heißt „Bild“ und sie wirkt halt so lange, bis der Artikel am Boden des Gurkenglases angekommen ist.

Mir machen zwei Dinge der beiden Fälle Bauchschmerzen. Zum einen ist es die Stigmatisierung, die jedes, noch so kleine Vergehen im Netz, auf Jahre festhält und mit ungebremster Boshaftigkeit wieder raus zerrt. Zum anderen ist es die vermeintliche Festsetzung eines politisch korrektem „Konzerndenkens“. Nur wer dem, von wem auch immer festgelegten, Verhaltenskodex auch brav dauerhaft entspricht, wer sich nicht bei Fehltritt erwischen lässt, der muss keine Angst haben.

Ich bin kein Befürworter des digitalen Radiergummis, aber zumindest muss man darüber nachdenken, an welchen Punkten und in welchen Fällen ein „Vergessen“ einsetzen darf oder sogar muss. Darf man jemanden abmahnen, der vor vielen Jahren mal was geschrieben hat, was einen heute stört? In dem Fall (mal abgesehen vom gesamten Unsinn des deutschen Abmahnwesens) wäre ein „juristischer Radiergummi“ angebracht. Aber wann setzt der ein? Wenn ich heute schreibe, dass der Geschäftsführer der Firma XY eine Pottsau ist, wie lange hat er Zeit zu reagieren? Sechs Monate? Zwölf Monate?

Und wie lange sollen berufliche Fehltritte der kleinen Art im Netz ersichtlich sein? Ein Jahr? Zwei Jahre?

Es geht mir nicht um das Vernichten von Information, aber um das gnädige Vergessen. Das Internet speichert nur die Information, es wertet sie nicht. Das Rechtssystem und vor allem aber wir selber müssen vermutlich lernen, dass die Schönheit die ewigen Gedächtnis eben auch nur dann vollkommen ist, wenn das verwischen, verschwimmen und vergessen von uns kommt. Und vielleicht hilft es dabei, wenn man den eigenen Egoismus und moralischen Ansprüche von Zeit zur Zeit überprüft. Die Gefahr ist groß, dass man schnell selber zum Opfer seiner eigenen Ansprüche wird.

34 Antworten zu „Moderne Stigmata“

  1. Christoph Kappes

    Danke für diesen besonnenen Beitrag.
    Besonders wichtig finde ich „Ob der Mann gerne für das Blatt gearbeitet hat, ob er es musste, weil seine Frau oder er selber krank – wir wissen es nicht. “
    Wir sehen im Web nie den ganzen Sachverhalt, vielleicht auch nur die 20% der Spitze. Warum es geschah, ordnen wir mit unseren Kausilitätsvermutungen zu. Ob es denn wirklich so war, wissen wir nicht.
    Ich kann mir für viele vermeintliche im Web abgebildeten Fakten eine ganz andere Geschichte vorstellen.
    Natürlich spricht das nicht gegen das Web, weil es eben „die 20%“ sind. Aber es ist gefährlich, diese 20% mit unserem jahrhundertalten, durch andere Erfahrungen geprägten Denken zu interpretieren . Wir finden schriftliches vor, wo es vielleicht nicht einmal mündliche Worte gegeben hat, sondern Handlungen. Vielleicht ist das, was wir zweifach sehen, immer noch das doppelte Vorkommen eines Einzelfalles etc.

  2. […] können durch Behauptungen oder irgendetwas, das im Netz über sie steht, tatsächlich stigmatisiert werden. Und so kommt dann jemand, der mal Scheisse gebaut hat, nicht mehr aus der Scheisse raus. […]

  3. Thomas

    Vielen Dank!
    Ich musste mich gestern auch über beide Sachverhalte, nämlich die Bockigkeit von Herrn Niggemeiers und Herrn Walters+Euroweb, doch sehr wundern.

    Etwas mehr Ruhe und Besonnenheit, Barmherzigkeit und Güte stünde der gesammelten Internetgemeinde gut zu Gesicht.

    Doch es scheint zu viel Spaß zu machen, selbstherrlicher Richter zu sein und gesammelt das nächste OpferSchwein durch den Äther zu hetzen.
    Brot und Spiele – das Netz als modernes Kollosseum.

  4. Danke für soviel unaufgeregte Nachdenklichkeit, Don. (Kleiner Gedankenschlenker: Das Recht auf Resozialisierung ist ein wesentlicher Aspekt unseres Strafrechts bzw. Rechtssystems …)

  5. Trupedo_Glastic

    .

  6. dogfood

    Ich bin erstaunt, dass der Blogeintrag von Stefan Niggemeier so anders rezipiert wird. Ich verstehe Stefan nicht so, dass es ihm um Abstrafung bis ins Hohe Alter geht, weil jemand mal bei der BILD Unsinn verzapft hat.

    Es geht darum, dass sich jemand zu dem stellt, das er mal fabriziert hat und erklärt. Das jemand die Verantwortung für seine Handlung übernimmt. Und da ist es mir zu einfach zu sagen: „ich steckte halt in der Maschine BILD drin“.

    Ich kenne die „Vergessens“-Problematik, weil sich auch bei mir ein Herr an mich wandte und darum bat, seine Spuren im Blog zu löschen. Es ging dabei um einen Herren, den ich im Verdacht habe, knapp zwei Jahre lang ein Scheinunternehmen geführt zu haben, einzig zu dem Zweck seinen Penny-Stock gutgläubigen Kleinaktionären unterzujubeln. Bereits nach der Wendezeit stand der Herr lt. SPIEGEL-Recherchen vor Gericht, weil er aus NVA-Beständen illegal Ware vertickte.

    Ich habe sein Ansinnen abgelehnt. Ich sehe nicht warum ich bei ihm diesen dunklen Fleck der Biographie ausmerzen sollte.

    In Zusammenhang mit diesem Herrn wurde bei mir auch mehrmals ein Dienstleister genannt, der mich damals in eMails und per Telefon kritisierte, weil ich in meinen Blogeinträgen Zweifel an der Seriösität des großen Projektes hatte. Ein Jahr später rief der Dienstleister wieder bei mir an und schilderte wie er dem Betrüger aufsass und auf riesige Kosten sitzenblieb. Er bat mich seinen Namen aus den Blogeinträgen zu löschen oder abzukürzen, weil ihm die Einträge Probleme bei der Neuakquise machte.

    Als Dienstleister war er zwar Bestandteil der Betrugsmasche, aber gleichzeitig Opfer. Da konnte ich es akzeptieren, dass da jemand, zu dem noch jung und unerfahren, einen Fehler gemacht hatte – seinen Namen hatte ich dann auf seine Bitte anonymisiert.

    Niggemeiers Blogeintrag ist keine Forderung, sondern eine Beschreibung des Zwiespaltes zwischen Vergessen und Vergeben. Das man Menschen – in graduellen Abstufungen – auch an ihren Handlungen festnagelt, finde ich korrekt. Wo jeder für sich diese Grenze setzt, ist eine individuelle Frage.

    Dazu gehören übrigens immer zwei: in einem Zeitalter der Social Media sollte man als Rezipient auch aufhören, jedem Partyfoto, jedem Tweet oder jedem Blogeintrag eine gigantische Bedeutung beizumessen („Der Mensch hat gesoffen, kann sich also nicht kontrollieren und ist daher nicht geeignet für den Job“).

    Aber solche Petitessen sind nicht das gleiche wie jahrelang praktizierter Betrug.

  7. „Die deutsche Blog-Community heult, weil ihrem Mitstreiter Nerdcore der Hahn abgedreht wurde. Dabei ist das Übel ganz und gar hausgemacht – ein kleiner Exkurs in die BWL über Guerilla-Marketing, Streisand-Effekt und Corporate Behaviour.“

    http://www.philibuster.de/themen/neue-welten/domainpfaendung-nerdcore-und-die-blogolemminge.html

  8. Amen.

    Auch wenn ich nicht denke, dass sich diesbezüglich in (naher/mittelferner) Zukunft etwas ändert. Der Mensch ist nun mal wie er ist.

  9. strappato

    Es kommt doch wohl auf die Intention an. Das Bildblog will für die fragwürdigen journalistischen Methoden einer Zeitung sensibilisieren – um es mal vorsichtig auszudücken. Da ist der Name des Journalisten vollkommen unbedeutend. Es zählt der Fakt, dass ein Journalist bei Bild sich bei anderen bedient hat. Wegen eines Plagiats praktisch Berufsverbot zu bekommen, ist eine ziemlich harte Strafe. Da darf man fragen, ob sich nicht jemand zum Scharfrichter aufschwingt.

    Sowas würde ich als Blogger nicht auf mich laden wollen. Daher bin ich schon einige Bitten um Anonymisierung oder Löschung nachgekommen. Habe ich kein Problem mit.

    Bei Euroweb betrifft die Kritik, angemessen oder unangemessen, das Unternehmen und nicht die Branche oder einen Mitarbeiter. Aber auch hier sollte man sich nicht in Kleinkriegen verlieren. Ist es nicht wert.

  10. Zitat:
    „Das “Nicht-Vergessen” des Internets führt auch dazu, dass wir uns immer mehr auf verhärtete Positionen zurück ziehen, um unseren Standpunkt und das, was wir vertreten, nicht nach außen aufzuweichen. Im Grunde schwimmen wir auf Ego-Inseln, die wir uns mit unseren Ansichten und Argumenten selbst gebaut haben und wir verteidigen ihre Grenzen, sobald wir angegriffen werden oder es darum geht, eine argumentative Kehrtwendung zu machen.“

    Sehe ich ganz anders, gilt vielleicht für wenige absolut uneinsichtige, unverbesserliche Mitglieder der Menschheit. In der Regel liest man sich doch durch seine alten Blogbeiträge und denkt dabei ziemlich häufig „Was habe ich da(mals) für einen Schund geschrieben?“ Falls nicht, dann ist man wohl nicht mehr bereit, noch etwas dazuzulernen.
    Genausogut könnte man also einen „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“-Standpunkt vertreten.

    Das ist aber gar nicht der Punkt. Denn so hart das jetzt klingt: Das Internet (und mit ihm der Medienwandel) interessieren sich nicht besonders um menschliche Einzelschicksale.

  11. anonym

    Klingt gut. Nur befürchte ich, daß der SUV-Fahrer in mindestens (ganz vorsichtige Schätzung) 80 % der Fälle genau der Typ mit den Aufklebern ist, als der er sich darstellt – und der Zeitungsschreiber ebenso. Mir als Fußgänger und Nichtleser solcher Blätter wird schlicht übel, wenn ich nur an diese Visagen denke. Ich kann nur eins tun: nicht über meine Übelkeit reden.

  12. @dogfood: Es gibt also durchaus eine Instanz, die das Netz vergessen lassen kann: das ist (wenn man mal davon absieht, dass google Ergebnisse verschwinden lassen kan) der Autor selbst. Wenn ich als Geschmähter also die Schmähung vergessen lassen möchte, bin ich auf Verständnis des Autoren angewiesen. Ich komme also als Bittsteller, der auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.

    Im Gegensatz dazu kann eine Firma, die sich geschmäht sieht, ihren Anwalt auf den Fall ansetzen, mit dem (geschätzt) 90prozentigen Ergebnis, dass der Artikel offline genommen wird. Wenn nicht, entstehen dem Autor meist nicht unerhebliche Prozess- und Anwaltskosten.

    Die einen können vergessen machen, die anderen nicht. Das ist eine Unausgewogenheit, die ungerecht ist. Und genau da liegt imho das Problem. Du sagst: „Das man Menschen – in graduellen Abstufungen – auch an ihren Handlungen festnagelt, finde ich korrekt. Wo jeder für sich diese Grenze setzt, ist eine individuelle Frage.“

    Das ist einerseits sehr willkürlich (für Individuen) und gilt andererseits eben gerade nicht für jedermann. Da scheitert die Gleichheitsfrage am Investitionsvermögen, und das ist – gelinde gesagt – nicht schön.

  13. Fred – schön. Und nun noch etwas weiter gedacht: denn der Privatmann kann schließlich auch einstweilige Verfügungen aussprechen lassen. Alles nur eine Frage des Aufwandes und des Geldes.

    Und was zeigt uns das? Dass – sobald es Möglichkeiten der Informationskontrolle gibt – sie die Möglichkeiten der Mächtigen sind. Schaffen wir Angelpunkte, ist vor allem die Größe des Hebels entscheidend.

    Das ewige Archiv des Internets mag vielleicht den einen oder anderen in doofe Situationen bringen, aber wenn man dem Wunsch nach institutionalisiertem Vergessen stattgibt, dann wird man die Falschen stärken. Das sollte man sich also gut überlegen.

  14. […] Dahlmann hat bereits gestern sehr schön darüber sinniert, was Vergeben und Vergessen bedeutet, wenn es von der kapazitären zur gesellschaftlichen […]

  15. @dogfood: Es ist ja keine Kritik an Stefan, ich kann seine Gedanken gut verstehen. Es ist eher die allgemeine Frage, ob ein nicht wertendes Archiv in manchen Fällen einer, besonders nach einigen Jahren, eine Neubewertung der Sachlage erfordert. Dass es dabei Grenzen gibt, ist klar, das kennt man ja auch aus den Verjährungsfristen des Rechtssystems, die unterschiedlich geregelt sind. Für das Netz und die allgemein öffentlich zu gänglichen Daten gibt es das aber nicht. Jeder, der eine Sache „neu entdeckt“, auch wenn sie schon lange zurück liegt, empört sich in dem Moment neu. Das kann etwas Gutes haben, weil sie Firmen und Menschen zu einer langfristigen Handlungsweise drängt, aber eben auch etwas schlechtes, wie im Fall der beiden angesprochenen Personen. Es ist leicht zu sagen, dass man sich halt immer so verhalten soll, dass es den gültigen Normen entspricht, doch schon hier ergibt sich das Problem, dass ein Verhalten heute völlig in Ordnung sein kann, nach 20 Jahren aber völlig anders bewertet wird. Das Recht kennt rückwärtige Bestrafungen nur in Ausnahmefällen, das Internet eben nicht. Ich sehe aber durchaus die Schwierigkeit, wie man da wo die Grenze ziehen soll. Auch hier zeigt das Internet, dass die Technologie schneller ist, als der juristisch-moralische Diskurs.

  16. mspro – Das ist ein schönes Ziel, aber ich glaube nicht, dass man dem durch Deregulierung nahekommt.

    Der Filter, von dem wir sprechen, ist ja in erster Linie ein juristischer. Du hast Wettbewerbs- und Pesönlichkeitsrecht als die weitreichendsten Werkzeuge der Informationskontrolle bezeichnet. Und, da bin ich bei Dir, je vermögender und mächtiger eine Person, desto mehr ist sie erstens gewillt und zweitens in der Lage, ihr Recht durchzusetzen. Mein Ansatz wäre, statt das Recht zu beschneiden, diese soziologische Ungleichheit versuchen auszugleichen: durch eine Reform des Abmahnwesens, klar, aber auch dadurch, dass man den (ich verfalle mal in Klassenkampfrhetorik) Kleinen ihre Rechte bewusst macht (was mir schon seit Jahren fehlt, ist ein Schulfach Recht, als Beispiel, außerdem ist der bürokratische Apparat im Justizwesen für Laien zu abschreckend, es gibt da noch einiges mehr, was reformbedürftig wäre).

    Wenn man die Filter abschafft,

    1) verschwindet der Unterschied zwischen Information und Desinformation.

    2) Und daraus folgt nicht die Einebnung der finanziellen Unterschiede. Schließlich gibt es jenseits der Justiz noch viel mehr Möglichkeiten, schlechtes über sich aus dem Fokus zu entfernen. Als Unternehmen würde ich ohne Zweifel das Geld, das ich bisher in Anwalts- und Gerichtskosten gesteckt habe, in Desinformationskampagnen stecken. Ist es nicht die Justiz, ist es die Textproduktion. Man verschiebt das Problem nur, wenn man die Rechte beschneidet.

    Damit Dein Ansatz funktioniert, müsste man zuallererst mal enteignen. Sonst wird man über diesen Punkt nie rauskommen, höchstens in Einzelfällen.

  17. Danke, Don, für diesen schönen Beitrag.

    Die Frage des „Vergessens“ im Web ist außerordentlich wichtig, auch angesichts der Tatsache, dass heute bereits die meisten Kinder das (Social) Web vollschreiben. Ich kann die Argumentation von Herrn Niggemeier nicht teilen. Wie erbärmlich wäre ein Leben, in dem man ständig damit rechnen muss, dass einem jeder auch noch in 20 Jahren ein Zerrbild der eigenen, vermeintlich unmoralischen Handlungen vor die Nase hält?

    Und, mspro, die Mächtigen werden immer die Möglichkeit haben, ihre „Vergessens“-Interessen durchzusetzen oder zumindest den Schaden abzuwenden. Nicht so der normale Bürger. Die Diskussion um einen Ethos im Internet, der die Wünsche von einzelnen Menschen nach „Löschen“ bevorzugt (im Zweifel für den Angeklagten, anyone?), ist daher umso wichtiger.

    Im Übrigen finde ich jede Form von öffentlichem Pranger erst einmal barbarisch. Das ist meiner Meinung nach nur in Ausnahmefällen zulässig, etwa bei grobem Machtmissbrauch, politischem Filz, Korruption etc. – wie strappato schon schrieb, sollte das „System Springer/BILD“ an den Pranger, gerne auch die verbandelten Firmen und Profiteure, nicht aber der einzelne Journalist.

    BILD juckt der Text von Niggemeier kein bisschen, für den Journalisten ist er existenzbedrohend. Sich dann so aufzuschwingen nach dem Motto „Freut mich, wenn wir was bewirken“ finde ich zynisch.

  18. […] Noch ein Nachschlaglesehinweis zu nerdcore/euroweb: Don Dahlmann apelliert auf seine Weise an die Nächstenliebe unter Bloggern: Gnädiges Vergessen statt moderne Stigmata. […]

  19. Der Untertan. 2.0

    Klar kann man selbstsüchtige, rücksichtslose, aggressive Hummer-Fahrer, Banker, BILD-Reporter oder Verbrecher als Opfer ihrer Lebensumstände, ihrer Verstrickungen und Belastungen betrachten und damit ihr SYSTEMATISCHES Fehlverhalten entschuldigen – muss man aber nicht.

    Ein traumatisierter Vater muss – und KANN – sich (auch) meist keinen Hummer leisten. Ein Banker MUSS die Ersparnisse seiner Kleinanleger nicht verzocken, der BILD-Reporter MUSS nicht bei der BILD arbeiten, weil er die Alimente nicht abstottern kann. Der Verbrecher MUSS andere nicht bestehlen, bedrohen oder töten, weil sein Kind Leukämie hat.

    Lösungen für Extremsituationen und Krisen sind nicht alternativlos.

    Systematisches Fehlverhalten – Hummer fahren oder für die BILD arbeiten – entspringt nicht akuten Krisensituationen, denen man nicht entgehen kann.

    Darüber hinaus sind die beiden Fälle – die des BILD-Reporters und Euroweb – nicht vergleichbar.

    In dem einen Fall soll eine Meinungsäußerung zensiert und Kritiker mit allen Mitteln der juristischen Kriegsführung abgeschreckt und möglichst öffentlichkeitswirksam mundtot gemacht werden – in dem anderen Fall handelt es sich um eine sachliche Tatsachenbeschreibung, um deren Beseitigung privat gebeten wurde.

    Beide Fälle hier gleich zu setzen und das damit das Verhalten von EUROWEB zu verharmlosen, wird beiden Fällen nicht gerecht.

    Denn so berechtigt und nachvollziehbar die Bitte des BILD-Reporters erscheint – so widerlich und abstoßend ist die überhebliche Attitüde der EUROWEB-Herren.

    Zu einer Diskussion über den absurden Vorschlag eines „digitalen Radiergummi“ taugen beide Fälle nicht.

  20. Stefan Niggemeier wird niemals in seinem Leben einen (oder gar mehrere) Fehler gemacht haben. Und er wird dies auch niemals tun. Und wenn er es tut, wird es zwar in den Augen anderer ein Fehler sein, niemals aber in seinen eigenen. Er kommt gut damit und mit sich klar…

  21. Stichwort Kontingenz: Es könnte eben auch alles ganz anders sein. Unumstößliche Urteile sind deswegen gefährlich. Und Vergessen & Vergeben müssen unabhängig davon stattfinden.

  22. Ach und: Danke für den DFW-Link. Großartig.

  23. BenZol

    1. Informationen (gerade solcher Art) sind ohne den Kontext kaum vernünftig zu bewerten. Der Kontext jedoch ist es, der sich mit dem zeitlichen Abstand als erstes auflöst.

    2. Menschen und Unternehmen sollten m.E. juristisch stärker getrennt werden. Juristische „Person“ find‘ ich voll pervers!

    3. Rene hat scheisse gebaut und jetzt gilt es ein großer Junge zu sein und nicht zu heulen; auch für seine Anhänger.

    4. Die bildblog-Info war mir neu und führt ohne Kontext (ich hab‘ nur den Artikel hier gelesen) zu der Reaktion: Boah, was für ein Arschloch. Könnte doch mal netter sein. Bildblog spar ich mir jetzt mal für’s erste. – Ich denke, das trifft’s aber nicht wirklich.

    5. Es gibt eine Version des Radiergummis, die in den alten Medien oft angewendet wurde, nämlich der Hinweis „Name der Redaktion bekannt“ oder „Name geändert“ oder etwas in dieser Richtung. Wessen Interesse wirklich sooo groß ist, dass er wissen muss, was sich dahinter verbirgt kann dann ganz einfach beim Schreiber nachfragen (und sollte dann natürlich auch Antwort bekommen), wobei der Hinweis ähnlich wie bei CC weitergegeben werden sollte. Ist einem Blogger das zu doof, darf er sich bei seiner Recherche halt nicht auf solche Angaben stützen und sollte selbst recherchieren, den Namen, den er rauskriegt dann nennen (und vielleicht eine Abmahnung riskieren).

    So, hat Euch Benzol mal wieder die Welt erklärt und Euch gezeigt wo’s langgeht. Bitte beherzigt meine Worte. Ich will nicht immer durch’s Netz fliegen und alles richten müssen. Papa braucht auch mal Ruhe.

  24. LieberPapa BenZol, die „juristische Person“ müssen wir Juristen uns ankreiden lassen. Tun wir aber gern, denn über solche Stilblüten können dann Journalisten (und auch andere Wortschaffende) schön lästern. Dumm ist es, wenn man als Jurist auch noch Journalist ist…

  25. Hans Brezelmann

    Ich möchte hiermit Ihrer Darstellung, ich wäre „eine Pottsau“, entschieden widersprechen. Alles weitere klären unsere Anwälte.

    MfG
    Hans Brezelmann
    Geschäftsführer der Firma XY.

  26. fred – hast du dir wirklich Gedanken über das Thema gemacht oder redest du grad nur so vor doch hin? Welche anderen, außer rechtliche Schritte, könnten denn dafür sorgen, dass Daten über Dich von meinen Festplatten verschwinden? Selbst wenn du viel Geld hast? Private Geheimdienste? Atomschläge?

  27. Jens Best

    Das in der Diskussion ab und an auftauchende Argument, das Web müsse mit einer „Vergessen“-Funktion an das menschliche Gehirn angepasst werden, ist die kulturfeindlichste Äußerung der Woche. Einfache Lösungen sind meist nur die Verpackung von denen, die zu Schlimmerem verführen wollen. Vergebung und Gelassenheit sind menschliche Eigenschaften, denen definitiv eine neue Renaissance gebührt.

    Meinungen anderer Personen über mich und Aspekte meiner Person, die mit der Teilnahme an der Gemeinschaft zu tun haben und somit zum öffentlichen Raum gehören, sollten auch im öffentlichen Web (suchmaschinenlesbar, ohne Login zugänglich) verfügbar sein können.

    Das ganze wird begrenzt durch eine nur teilweise juristisch einklagbare, auf jeden Fall aber soziokulturell definierbare gegenseitige Wertschätzung und Rücksichtnahme.

    Möglichkeit der Erinnerungsfähigkeit der Gemeinschaft steht vorrangig zur Möglichkeit des Einzelnen Vergangenes aus dem öffentlichen Gedächtnis zu löschen. Selbst-Lobotomie durch chirurgische Eingriffe oder Alkohol/Drogenmissbrauch sind dem Einzelnen selbstverständlich freigestellt. (-> s. Greg Egan ;)

    Die größte Herausforderung ist die selbstverantwortliche Fähigkeit des Informations-Empfängers zur Kontextualisierung des Aufgenommenen bzw. die Verpflichtung im Zweifelsfalle ohne genügend ausgeglichene Informationslage keine radikalen Entscheidungen gegenüber dem Sender oder dem beschriebenen Objekt endgültig zu treffen. Gelassenheit und ein gerütteltes Maß an Menschlichkeit und Höflichkeit sind hier die Stichworte.

    In einer Welt der sich ständig überschlagenden tausendfachen Interessenslagen (mit stark variierenden und tagesaktuell schwankenden emotionalen Intelligenzquotienten der Subjekte) ist das alles eine große Herausforderung für Menschen, die durch die Jahrzehnte des Neoliberalismus an einen übersteigerten (Pseudo)Individualismus und Anspruchsdenken gewöhnt sind.

    Das auch der einzelne Bildzeitungs-”Journalist” als Mensch im herrschenden System Fehler macht und somit partiell Opfer wird, entschuldigt nicht unbedingt das individuelle Verhalten, macht aber klar, dass statt gegenseitiger Zerfleischung ein Nachdenken über systemische Förderung von Ungerechtigkeit im Vordergrund stehen sollte. (s.a. guten Kommentar drüben beim Niggemeier-Post -> http://ow.ly/3G7S0 )

    Das Web verstärkt die Effekte, die in einer Gesellschaft/Gemeinschaft
    den Umgang bestimmen. Dem Web durch technische Vorgaben oder gar Gesetze das Vergessen vorschreiben zu wollen, grenzt an kollektive Selbstverachtung. Das Web ist ein Spiegel der Gesellschaft, jede ernstzunehmende Änderung, die im Web gefordert wird, sollte also eher gesellschaftlich/gemeinschaftlich in der Restrealität angegangen werden. Wer das Spiegelbild des Gegenüber wütend anschreit oder das durch Fremde verzerrte eigene Spiegelbild beweint, ist nichts weiter als ein Affe, der nicht verstanden hat, das Realität nicht im Spiegel entsteht.

    PS: Dies ist eine Anregung mal entspannt langfristig nachzudenken, keine adhoc-Lösung.
    Aktuell muss ich z.B. auch damit leben, dass eine hass-erfüllte und unreflektierte Meinung eines Bloggers (Sieckendieck) unter den 10 ersten Suchergebnissen(google) bei meinem Namen steht. Dieser Mann hat nie mit mir gesprochen und hat wenig dialektische Kompetenz hinsichtlich des Themas, in dem er versucht mich niederzuschreiben.

    Aber ihn deswegen jetzt wegen Verleumdung anzuzeigen wäre genau das, was das aktuelle System von mir erwartet (ein Hauen und Stechen) – ich habe einfach Mitleid und vertraue auf bei den durch diesen Artikel “beeinflussten” Personen auf das Korrektiv der Verzögerung.

    –crosspost-comment weil ick zu faul bin jedes mal neu das Gleiche zu schreiben (vielleicht sollte ich mir echt mal ’nen eignen Blog zulegen….—

  28. Träumer…

  29. […] Moderne Stigmata – Irgendwas ist ja immer – Reloaded […]

  30. mspro – Ich rede wie die meiste Zeit eigentlich nur vor mich hin. Verschwinden lassen ist bloß die deutlichste Form von „aus dem Fokus holen“. Klar, wenn Du das juristische Werkzeug nicht hast, kriegst Du das ein vollständiges aus dem Fokus holen nicht hin (obwohl auch dieses Recht ein vollständiges Vergessen nicht garantiert, wie der aktuelle Euroweb-Fall beweist, dann tauchen die Formulierungen eben als Zitate wieder auf).

    Aber es gibt von SEO bis Googlebomben ne EMnge Möglichkeiten, die Erinnerungsstruktur des Netzes zu manipulieren.

  31. […] hat aus gegebenem Anlass (Euroweb vs. Nerdcore bzw. Niggemeier vs. ehemaliger Bild-Mitarbeiter) zum Thema Internet und Vergessen das ausgeführt, was Cliff Gerrish in einem anderen Zusammenhang vor einigen Monaten schon einmal […]

  32. […] Moderne Stigmata […]

  33. […] Dahlmann schreibt am 19.1 über moderne Stigmata und ein Internet, das Informationen zwar speichert, sie aber nicht wertet oder in einen Kontext […]