Frank Schirrmacher hat einen erstaunlich weitsichtigen Text in der FAZ veröffentlicht, in dem er sich sehr differenziert über Google und die komplexen Algorithmen der Echtzeitwelt äußert. Der Text liest sich geschliffen und ist mit viel Weitsicht geschrieben. Zwischendurch hatte ich schon den Verdacht, dass er sich einen Ghostwriter zugelegt hat. Aber Schirrmacher ist selbstverständlich ein sehr kluger Mensch und sein Buch „Payback“, in dem er eine Art Brandrede gegen die Überfrachtung durch Information hält, ist (was ich bisher gelesen habe) auch besser, als der Ruf, den das Buch in der Netzszene hat. Denn, da muss man schon ehrlich sein, ein wenig wird jedem schon mal anders, wenn er an all die Informationen denkt, die gelesen und verarbeitet werden wollen.
Es braucht also, so Schirrmacher, Algorithmen, die Informationen sortieren und in einen Bezug setzen. Doch das führt dann seiner Meinung nach dazu:
Es geht hier im Kern um Systeme, die menschliche Kommunikation industrialisieren, extrahieren und ausbeuten. Es geht um das Geschenk der freien Meinungsäußerung für alle und jeden. Und es geht darum, wie die Inhalte dieser Meinungsäußerungen in Systemen perfektioniert werden, die menschliches Verhalten aufzeichnen, auswerten und für industrielle Zwecke verwerten. Niemand kennt Googles Algorithmus – und erst recht nicht diejenigen all der kleinen Googles, die in Unternehmen exakt auf die Bedürfnisse des Personalmanagements zugeschnitten werden –, aber es ist eindeutig, dass dieser „Verarbeitungsprozess“ in Wahrheit eine moderne Form der Bürokratie ist.
Das ist eine sehr düstere Einschätzung. Genauso düster wie der Gedanke, dass man von all den Informationen erschlagen wird. Ich halte das für falsch und zugleich für ein typisches deutsches Denken.
Natürlich versuchen Algorithmen manche Dinge zu vereinfachen. Sie simplifizieren, versuchen vorausschauend zu denken und dringen klammheimlich in unser Leben ein. Sie übernehmen hier und da auch die Kontrolle über das, was wir tun wollen. Der simple Mechanismus bei Amazon, der uns sagt, was uns interessieren könnte und gleichzeitig viele Dinge weg lässt, die einen vielleicht wirklich interessieren könnten, ist nur ein Beispiel. Und gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass er versagt. Wenn ich nur einmal für etwas für einen Freund suche, der einen komplett anderen Geschmack hat, bekomme ich wochenlang nur Schrott geliefert.
Schirrmacher (und viele andere) formulieren die althergebrachte Angst, dass Maschinen unser selbst bestimmtes Denken übernehmen werden. Das ist so alt, wie es Sience Fiction gibt. Dass die Maschinen die Macht übernehmen, uns die Fantasie klauen und wir im Grunde irgendwann Sklave unserer eigenen Bequemlichkeit werden. Ich glaube nicht daran.
Der menschliche Geist ist eben keine mathematische Formel. Er wird von anderen Dingen gesteuert, zu denen auch die Entwicklung gehört. Wir verändern uns, die Systeme, die die Veränderungen auslösen, sind komplex und nicht verstanden. Es können genetische Faktoren sein (Dawkins) es können spirituelle Dinge sein (Religion) es können menschliche Faktoren wie Krankheit oder die Geburt eines Kindes sein. Es kann auch sein, dass wir uns einfach verändern, weil wir älter werden und die Begegnung mit einem einzelnen Menschen kann unser Leben auf den Kopf stellen. Kein System, nicht mal unserer Eigenes, kann das voraussehen. Die Variablen, die unsere Gehirne und unsere Seelen verbergen, sind so komplex, dass wir sie nicht mal selber verstehen, geschweige denn vorhersehen können. Aber das ist die Angst, die Schirrmacher in seinem Buch und in dem Text formuliert. Dass wir insgeheim gesteuert werden, ohne dass wir es merken.
Eigentlich ist das eine wichtige Einsicht, wenn Schirrmacher & Co sie nicht nur auf das Internet und Google beziehen würden. Eine Frage zu stellen, Dingen nicht mehr zu vertrauen, gehört zu den Grundvoraussetzungen einer philosophischen Ausbildung. Was ist das, was uns umgibt? Wie frei sind meine Entscheidungen wirklich? Rousseau hat geschrieben „Der Mensch wird nicht in Ketten geboren“. Er meinte das in einem verfassungsrechtlichen Sinne, aber im Grunde trifft das auch auf unser gesamtes Denken zu. Nietzsche war da anderer Meinung, ebenso Freud. Die Frage, wie frei der menschliche Geist wirklich ist, ist die Königsdisziplin der Philosophie.
Schirrrmacher erweckt in seinem Text den Eindruck, dass wir gerade Ketten angelegt bekommen. Die Maschinen, die auf Maximierung der Wirtschaftlichkeit angelegten Algorithmen schläfern das Hirn und den freien Willen ein und sorgen dafür, dass wir uns in Watte verpacken lassen. Systeme sagen uns, welche Nachrichten für uns wichtig sind, und nicht mehr ein fühlender Mensch, der jenseits dessen reagiert, was für den einzelnen Leser wichtig sein könnte.
Ich glaube, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Abschaffung eines Redakteurs, der unter einem wirtschaftlichen Zwang steht, der angewiesen wird von Chefredakteuren, Verlagsgeschäftsführern und wirtschaftlichen Erwägungen ist ein Einschnitt, gut ist, weil er uns darauf aufmerksam macht, dass wir auch bei den Nachrichten für uns selbst verantwortlich sind. Die Trennung des Vertrauensmechanismus hat schon längst statt gefunden. Das persönliche Empfehlungssystem ist an die Stelle des anonymen Redaktionssystems getreten. Das ist neu und bedarf einer neuen Medienkompentenz.
Wir betrachten Informationen persönlicher. Wer bringt sie uns? Welche Reputation hat der Übermittler in unserem inneren Wertesystem? Genauso, wie wir uns vom Empfehlungssystem der Eltern losgelöst haben, definieren wir auch die mehr oder weniger anonymen Quellen, die uns Nachrichten übermitteln. Robot-Systeme wie Google News machen keine Nachrichten, sie übermitteln sie nur. Dahinter stehen immer noch von Menschen gemachten Texte, die wir in unsere Systeme einnorden müssen. Ein System, das, wie oben beschrieben, komplex ist, weil es spontanen Mutationen unterworfen ist, die kein sich selbst reproduzierender Algorithmus vorhersehen kann. Der Ball liegt in unserem Spielfeld – und die Spielfelder sehen bei jedem Menschen anders aus.
Der Text von Schirrmacher strotzt nur so vor der Angst, eigene Entscheidungen treffen zu müssen. Er basiert auf der Annahme, dass es ein übergeordnetes System gibt, das jenseits der Vorschläge uns sagt, was für uns wichtig sein könnte. Er spricht von einem Informations-Overload, der nur noch durch Maschinen kontrolliert werden kann und uns komplett überfordern würde. Aber das haben wir schon seit mehr als 100 Jahren. Das Wissen der (westlichen) Welt passte Mitte des 19. Jahrhunderts noch zwischen zwei Buchdeckel. Seit vielen Generationen ist es nicht mehr möglich, dass ein Mensch alles weiß. Und genauso wenig, wie wir den Inhalt einer Bibliothek auswendig lernen und verstehen können, ist es möglich, das Wissen des Internets zu erfassen. Das ist aber auch gar nicht der Sinn.
Die Algorithmen, vor denen Schirrmacher so Angst hat, erleichtern uns nichts. Sie ändern auch nicht unsere Interessen, verborgenen Sehnsüchte oder Ängste. Am Ende sind sie nur Karteikarten, die Systeme ordnen. Wenn ich in einer Bibliothek nur die abgegriffenen Karten aus dem Interessengebiet wähle, welches mich interessiert, dann bekomme ich auch nur das, was die Masse für interessant hält.
Die Abneigung von Schirrmacher und anderern gegenüber fremdbestimmten Systemen ist ja nicht gänzlich falsch. Aber sie erscheint mir zu totalitär. Sie basiert auf der Idee, dass Technik wenig Gutes bringen kann, weil sie nicht in das bisher gelebte System passt. Und diese Ansicht an sich ist dann wieder totalitär, weil sie das Gute im Neuen komplett negiert. Eine Art Zukunftspanik, die davon getrieben ist, dass man die gewohnte Kontrolle über das eigene Wertesystem verliert. Statt sich das Neue anzusehen und zu prüfen, ob es einen Mehrwert bringt, ob es die Fehler im bisherigen System nicht offen legt, wird mit Angst behaftet und negiert. „Ausbeutung des menschlichen Systems“ heißt das in der Schirrmacher-Sprache.
Das ist nicht verachtenswert, weil es eine Warnung an jeden ist, dass man Systeme hinterfragen sollte. Sowohl die Technischen, als auch jene, die uns bisher mit Informationen versorgt haben. Dahinter steckt die Frage nach der Wahrheit, welche Form der Nachrichtenübermittlung uns wirklich „wahre“ Nachrichten übermittelt. Die Frage wird man nicht beantworten können, wenn man ausschließlich davon ausgeht, dass neue Ordnungs-Algorithmen schlechter sind, als die Alten. Man muss sich bewusst auf sie einlassen, sie ausprobieren und dabei immer wieder in Frage stellen. Sie zu verdammen, eine von Maschinen hervor gerufene Apokalypse zu beschwören, hilft da nicht weiter.
12 Antworten zu „Die Angst vor der Moderne“
Ich bin über den Schirrmacher Text auf diese von ihm zitierte Äußerung des Mathematikers Strogatz gestossen. Er gibt Schirrmacher recht, denkt sogar noch weiter. Ich kopiere das mal mit Link hier rein.
The End of Insight
I worry that insight is becoming impossible, at least at the frontiers of mathematics. Even when we’re able to figure out what’s true or false, we’re less and less able to understand why.
An argument along these lines was recently given by Brian Davies in the „Notices of the American Mathematical Society“. He mentions, for example, that the four-color map theorem in topology was proven in 1976 with the help of computers, which exhaustively checked a huge but finite number of possibilities. No human mathematician could ever verify all the intermediate steps in this brutal proof, and even if someone claimed to, should we trust them? To this day, no one has come up with a more elegant, insightful proof. So we’re left in the unsettling position of knowing that the four-color theorem is true but still not knowing why.
Similarly important but unsatisfying proofs have appeared in group theory (in the classification of finite simple groups, roughly akin to the periodic table for chemical elements) and in geometry (in the problem of how to pack spheres so that they fill space most efficiently, a puzzle that goes back to Kepler in the 1500’s and that arises today in coding theory for telecommunications).
In my own field of complex systems theory, Stephen Wolfram has emphasized that there are simple computer programs, known as cellular automata, whose dynamics can be so inscrutable that there’s no way to predict how they’ll behave; the best you can do is simulate them on the computer, sit back, and watch how they unfold. Observation replaces insight. Mathematics becomes a spectator sport.
If this is happening in mathematics, the supposed pinnacle of human reasoning, it seems likely to afflict us in science too, first in physics and later in biology and the social sciences (where we’re not even sure what’s true, let alone why).
When the End of Insight comes, the nature of explanation in science will change forever. We’ll be stuck in an age of authoritarianism, except it’ll no longer be coming from politics or religious dogma, but from science itself.
http://www.edge.org/q2006/q06_8.html
Mein Lieblingsmaxim ist mittlerweile: Die Grenten des Machbaren erkennen.
Fällt vielen Menschen schwer, ganz im Hinblick auf darauf wie redundant die Informationen sind, und das man sich und sein Handeln auf Informationskonsum und informationelle Selbstbestimmung hinterfragen sollten, nicht nur das der superglobalen Informationsanbieter, vesteht sich eigentlich von selbst, wenn medienkompetent sein möchte.
[…] lesenswert dazu ist auch Don Dahlmanns Kommentar. Artikel […]
Danke Don für diesen Artikel. Hat mir wirklich sehr viel Spaß gemacht ihn zu lesen und mich darin bestärkt, dass der Mensch schon immer Respekt (delete >Angst<delete) vor Dingen hat, die er nicht kennt.
Und dass genau das die eigentliche tolle Herausforderung im Leben ist.
[…] … Don Dahlmann […]
[…] Die Angst vor der Moderne – Irgendwas ist ja immer – Reloaded Die Antwort Don Dahlmanns auf den Schirrmacher-Artikel. (tags: zukunft google web2.0 Google_Epic blogging zeitung faz schirrmacher realtime medienwandel 2010 twitter culture kritik inspiration web internet medien) […]
[…] Don Dahlmann: Angst vor der Moderne […]
ich höre immer nur google, google. ma muss einfach mal feststellen, ohne google wäre das internet nur eine ansammlung von seiten, die schwerlich indexierbar waren.
diese aglorithmen schieben uns tatsächlich meistens unbewusst in gewisse richtungen; man soll nur mal den gleichen begriff googeln, nur in einem anderen land, das is immer interessant.^^
aber durch Deinen artikel sind sicherlich mehrere menschen sich dieser aglorithmen bewusst geworden und ein stückchen mehr befreit.
Ich glaube die Frage der Industrialisierung von Information ist für ihn nur ein Vorwand zu einer philosophischen Diskussion.
Erfreulich.
Er sagt: „Wir sind, wo wir auch sind, im Netz.“
Mit fundamentalistischer Endgültigkeit behauptet er, es gebe überhaupt keine Wahl, die einzige Chance, die wir hätten, sei, unsere Ohnmacht anzuerkennen.
Das bezieht er aus Bildern der BDSM-Szene. Der dienende Computer sei gar nicht der Diener, sondern der Herr und Sadist. Um das zu begründen, zieht er Alexander Galloway heran, der habe gesagt: „Wir halten Computer für Masochisten, die alles für uns erledigen, nie klagen und immer noch mehr Arbeit wollen. In Wahrheit, so Galloway, sind es Sadisten.“
Schirrmacher redet von ideologisierter „Magie“, von Verdrehungen und sieht alles in magischer Willensfrage, es geht mehr um Thelema als um Google.
-imo-> ( es kann ja jeder lesen, was er will – oder nicht?)
Sein Problem ist sein linearer Highendverstand.
Das HERZ denkt ganzheitlich, netzwerkartig.
Da gibt nicht nur schwarz und weiß, und in Eingeweichtenkreisen schwarz=weiß.
Er sollte also mal wieder seinen Sant Exupery herauskramen, dann geht es ihm besser – dem devoten Netzsüchtigen! 8)
[…] January 7, 2010 Late Quotes of the last WEEKS #5 Posted by SenseAbsurd under Quotes Absurd | Tags: Andy Oram, Dahlmann, Krugman, vanEngelsdro | Leave a Comment Es kann auch sein, dass wir uns einfach verändern, weil wir älter werden und die Begegnung mit ei… […]
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