Das kleinere Übel

Ich hab schon gewählt, per Briefwahl. Vor ein paar Wochen, als die Diskussion um die Netzsperren ziemlich hitzig geführt wurde. Ich habe lang vor dem riesigen Wahlzettel gesessen, ihn zweimal zusammen gefaltet (sort of) und wieder auseinander gefummelt. Ich hab Parteien gegoogelt, aber am Ende war klar, dass ich entweder die Piratenpartei oder die Grünen wählen würde. Es ist dann die PP geworden. Mit Bauchschmerzen, zwar, aber die restlichen Parteien schienen mir einfach nicht mehr akzeptabel.

SPD und CDU spielen in meiner Wahlentscheidung keine Rolle. Die FDP auch nicht, die Linken schon eher, aber dann auch wieder nicht, weil man bei denen nie weiß, was morgen wieder los ist und ich in einer Stadt lebe, die von einer rot-roten Koalition reagiert wird, und ich kann nicht erkennen, dass deswegen irgendwas anders oder besser geworden ist.

Bei den Grünen schwebte mein Kugelschreiber lange über dem Feld. Die Grünen sind so eine Art alte Liebe. Als ich das erste Mal wählen durfte, habe ich natürlich die Grünen gewählt, allein um meine Eltern zu ärgern, für die die Grünen am Anfang auch nur „Chaoten“ waren. Aber den Grünen habe ich große Teile von Hartz IV nie verziehen und mittlerweile scheinen sie genauso im Parteienestablishment angekommen zu sein, wie alle anderen.

Also doch die Piratenpartei, auch wenn ich weiß, dass sie in Deutschland zunächst keine Rolle spielen werden. Und mit dem Namen vermutlich auch nie werden. Stimme also verschenkt?

Ich kenne ein paar Menschen, die in den letzten Wochen gestöhnt haben, dass sie nicht zur Wahl gehen, weil sie einfach nicht wissen, was sie wählen sollen. Und wenn sie gehen, würden sie was etabliertes wählen, auf jeden Fall „das kleinere Übel“, weil, verschenken will man die Stimme ja auch nicht.

Und genau sind die Fehler. Nicht wählen gehen. Und „das kleinere Übel“ wählen. Genau das machen viele seit Jahren. Und sorgen so dafür, dass sich die Verhältnisse nicht verändern und die ehemaligen Volksparteien weiter halt das machen, was sie seit Jahren machen: die Macht unter sich aufteilen. Sich für das angeblich „kleinere Übel“ zu entscheiden, macht die etablierten Parteien erst stark.

Wegen mir kann auch nur eine Partei regieren, solange sie es vernünftig macht. Aber offenbar wird seit Jahren an Teilen der Bevölkerung vorbei regiert. Da kann man weit ausholen: über das Festhalten an einem extrem an Export orientierten Wirtschaftssystem, dass die Konzerne fördert, die Angestellten belastet, über ein Steuersystem, dass ein Monster ist, über die Auswüchse von Hartz IV, über eine „Sicherheitspolitik“, die Freiheit nicht mal mehr simuliert, über das Nicht-Verständnis dessen, was die Jugend im Netz bewegt und was sie macht, dass man sie kriminalisiert, weil eine winzige Lobby es so will. Aber auch das ist nicht mal alleine, was mich ärgert.

Was mich viel mehr stört, ist die Ignoranz mit der die Regierung meint, das Volk regieren zu müssen. Wahlversprechen sind da nur eine Sache. Man hält große Teile der Bevölkerung für dumm, und da, wo man Angst hat, dass das Volk doch etwas merken könnte, versieht man Entscheidungen mit dem Wort „geheim“. Die herrschenden Parteien haben sich seit Jahrzehnten eingerichtet und sie spielen ihr Spiel. Das sich ein kleiner Teil der Bevölkerung nun genervt zeigt, weil man das Spiel der Politik kennt und weiß, das es nicht bei einer Netzsperre bleiben wird, scheint niemanden zu stören. SPD-Mann Wiefelspütz, ein Prototyp des Partei-Mitläufers, soll angeblich schon angekündigt haben, dass man „auch Seiten mit verfassungsfeindlichen oder islamistischen Inhalten…“ blockt. Er bestreitet dies je gesagt zu haben, allerdings finde ich die Replik von Wolfgang Bosbach viel bezeichnender, denn der sagte: „Ich halte es für richtig, sich erstmal nur mit dem Thema Kinderpornografie zu befassen, damit die öffentliche Debatte nicht in eine Schieflage gerät.“ In Schieflage. Alles klar.

Es ist absurd geworden, die politischen Strukturen sind verkrustet und die Leute, die da meinen, mich vertreten zu können, sind meilenweit von mir entfernt. Politik ist ein Theater, wir sind das Klatschvieh.

Ich gebe zu, dass mich meine Hilflosigkeit gegenüber all diesen Dingen nervt. Auf dem Politcamp ranzte mich ein Vertreter einer großen Partei an, ich möge halt einer der großen Parteien betreten, anstatt nur zu nörgeln, aber ich habe keine Lust auf die politische Ochsentour um am Ende so rundgelutscht wie der Rest da raus zu kommen.

Nein, da muss was anderes her. Eine Partei mit anderen Strukturen, mit einem anderen Selbstvertständnis. Ich glaube nicht, dass die Piratenpartei die SPD von morgen ist, wie die Ruhrbarone schreiben. Aber sie könnten so etwas wie die Grünen von morgen sein. Eine kleine Partei, mit scharfen Profil, dies es schafft, das Establishment ein wenig zu ärgern.

Ich hoffe, dass jeder heute wählen geht. Und das jeder, der sich ärgert, der das Gefühl, dass ihm auf der Nase rumgetanzt wird, dies in der Wahl auch zum Ausdruck bringt. Und nicht wieder, wie seit Jahren, das kleinere Übel wählt.

13 Antworten zu „Das kleinere Übel“

  1. Wiefelspütz sagt, dass der Artikel in der Berliner Zeitung nicht seine Meinung wiederspiegelt:

    http://www.abgeordnetenwatch.de/dr_dieter_wiefelspuetz-650-5785–f192984.html#q192984

    Kann natürlich nicht sagen, wer jetzt Recht hat: die Berliner Zeitung oder Wiefelspütz und was generell davon zu halten ist. Daher einfach nur als neutrale Info verstehen.

  2. Dein Artikel trifft’s recht gut. Wenn man sich anhört, wie viele Leute glauben, man bräuchte die Piraten nicht wählen, weil’s sich eh nicht rentiert, da kriegt man das Kotzen. Hey, hier habt ihr echt mal die Chance, euren Individualismus zu zeigen, den ihr sonst nur mit eurem Klingelton zur Schau stellt. _Jede_ Stimme zählt, und man hat sich nicht nach den anderen zu richten!

    Warum man die restlichen Parteien nicht wählen kann, habe ich unter http://scytale.name/blog/2009/06/europawahl mal zusammengestellt.

  3. Sehr guter Beitrag, den ich zu 95% teile. Die fehlenden 5% sind die Wahlen in meinen jungen Jahren, denn ich war bis 2005 SPD-Wähler(zwischendurch auh2.Stimme grün). Erst die aktuelle Legislaturperiode und das Internet haben mir gezigt, dass ich mein (Wahl)Leben lang, einer Partei meine Stimme gegeben habe, die diese nicht verdient. Besonders beschämend für mich, sind meine 1.Stimmen in den 90ern, die ich Herrn Wiefelspütz gegeben habe…

  4. Im nicht geschriebenen Handbuch der politischen Kommunikation steht ganz sicher: „Erwischt man Dich mit einem Zitat von Dir, so flüchte in das Mißverständnis oder reklamiere zumindest den auseinandergerissenen Zusammenhang“.

  5. Wie gerade twitterte:

    „Vom kleineren Überl wird mir immer noch schlecht.“

  6. […] Also, Leute, geht wählen! Eure Stimme zählt heute vermutlich zigfach. Ein lesenswerter Beitrag dazu bei Don Dahlmann. […]

  7. Taktisch sehr unklug so ein Interview kurz vor der Wahl, hoffentlich haben es viele Leute gelesen!

  8. Tja. Leider leider waren eben doch viele Menschen nicht wählen. Eine Wahlbeteiligung von etwas über 40% spricht Bände. Schade, dass Europas Wahlvieh dermaßen uninteressiert an der eigenen Zukunft ist. Denn es ist ja überall in Europa das gleiche Trauerspiel…

  9. Zumindest was das Wählen des kleineren Übels angeht, möchte ich doch die Behauptung aufstellen, dass es womöglich doch so etwas gibt, wie mangelnde Auswahl. Es kann manchmal zu wenig sein, dass man nur den arrivierten Parteien seine Stimme vorenthält.

    Wenn ich Demokratie auch mit dem Anspruch sehe, dass jeder Bevölkerungsgruppe das Recht auf Repräsentation zusteht, kann ich auch davon ausgehen, dass nicht alle dieses Recht wahrnehmen. Dem steht natürlich ein immenser Aufwand entgegen: Es muss sich überhaupt erst eine Gruppe finden, die ein identitätsstiftendes Merkmal als Leitmotiv akzeptiert und homogen genug ist, aber auch genervt genug ist, sich nicht länger mit dem Status Quo zufrieden zu geben.

    Die Grünen sind immerhin aus Friedensbewegung und Antiatomkraftbewegung hervorgegangen. Eine Bevölkerungsschicht war homogen genug, sich als Gruppe eine Identität zu geben, deren gesellschaftliche Relevanz groß genug wurde, dass sie erst am politischen System partizipierten…

    …und schließlich Teil des Establishments wurden. Eine neue Generation hat womöglich keine Identifikation mehr mit irgendeiner arrivierten Partei. Die Ostermärsche sind nun schon ewig her, da liegt es doch nahe, dass ein neuer Kristallisationskern für eine Bürgerbewegung notwendig wird, um eine vergleichbare Relevanz zu erreichen.

    Ich habe mir über die Netizens und ihren Anspruch auf Repräsentation mal etwas ausführlicher Gedanken gemacht.

  10. […] wird viel diskutiert über die mangelnde Wahlbeteiligung des deutschen Volkes zur Europawahl. Viele fühlen sich […]

  11. […] Das kleinere Übel (Don Dahlmann) — Auch Don Dahlmann wählt die Piraten. Und das, obwohl die Grünen für ihn so etwas wie eine alte Liebe sind. Und, obwohl er weiß, dass sie in Deutschland vorerst keine große Rolle spielen werden. Eine verschenkte Stimme? […]

  12. […] Ich hoffe, dass jeder heute wählen geht. Und das jeder, der sich ärgert, der das Gefühl, dass ihm auf der Nase rumgetanzt wird, dies in der Wahl auch zum Ausdruck bringt. Und nicht wieder, wie seit Jahren, das kleinere Übel wählt. dondahlmann.de […]

  13. Habe ich haargenauso gemacht. Genialer Artikel.