Wie ein Trending Topic entsteht

Donnerstag, 02.14 Uhr, Berlin

Der bekannte 21jährige Blogger und YouTuber R.S sitzt mit der vierten Flasche Bier vor dem Rechner und scrollt durch seine Facebook Timeline. „Nichts los…“ murmelt er enttäuscht und dreht sich dabei eine Zigarette aus „Pueblo“ Tabak. Ein weiterer Schluck auf der Flasche, ein tiefer Zug, erneut F5 gedrückt. Nichts. „Früher war mehr los…“ denkt er und schreibt in seine Timeline „Früher war hier auf FB um die Uhrzeit auch mehr los, ihr Luschen“. Gelangweilt wechselt er zu YouTube.

Donnerstag, 06.34 Uhr, Hamburg

Social Media Managerin K.L. bereitet liest die Mails aus der Nacht und überprüft nebenbei, was sich in ihrer „Influencer“ Liste auf Facebook getan hat. Sie findet das Posting von R.S. und stutzt. Schnell kommentiert sie „Hast Recht, ich merke das auch in meiner Timeline. Aber wir werden ja auch alle nicht jünger und müssen früher ins Bett (Zwinkersmiley)“

Donnerstag, 06.59 Uhr, in der Nähe von Frankfurt

Social Media Berater D.F. sitzt nach seiner ersten Joggingrunde noch leicht außer Atmen in der Küche und checkt Facebook. Er sieht den Kommentar von K.L. mit der er vor Monaten auf einem Barcamp mal eine Affäre hatte und überlegt. Hatte er neulich, vor ein paar Monaten oder so, mal bei Pocket einen Artikel eines ehemaligen, offenbar frustrierten Facebook Mitarbeiters gespeichert, der meinte, dass Facebook vor einem Problem stehen würde, weil Jugendliche in Zukunft, wenn es andere Angebote gibt, lieber andere Dienste nutzen? Eine kurze Suche und schon ist der Artikel gefunden. Eine schnelle Google-Suche mit den Stichworten „Facebook Teenager Usage“ erbringt, dass verschiedene Aggregatoren den Blogartikel ebenfalls aufgegriffen hatten. Er packt den Link und den Link zum Status von R.S. in eine Mail an einen Kollegen.

„Guten Morgen, eben gefunden. Könnte Dich interessieren. D.“

Donnerstag, 07.23 Uhr, München

Das Handy von Agenturberater T.O. plingt. T. schaut und sieht eine Mail von D.F. Auf dem Weg zur Arbeit liest den Artikel und die Eintrag von R.S. „Könnte ein schönes Argument für einen Kunden sein mehr zu investieren, damit wir vielleicht ne Instagram Kampagne machen können“. Im Büro angekommen beauftragt er sofort seine Praktikantin S.P. per Mail mit der Ausarbeitung eines Artikels mit dem Titel „Jugendliche nicht mehr an Facebook interessiert – Zahlen und Fakten“.

Donnerstag, 08.55 Uhr, München

S.P. beginnt mit der Arbeit an dem gewünschten Artikel. 2 Stunden später hat sie ihn fertig, inkl. ausgedachter Infografik, die belegt, dass Jugendlich heute Multitasker sind, die sich nicht lange auf eine Marke festlegen lassen, es sei denn, die Marke erfindet sich ständig neu. Sie schickt ihn ihrem Chef T.O.

Donnerstag, 11.29 Uhr, München

T.O. ist zufrieden und schickt den Artikel an seinem Bekannten U.G., der bei einem reichweitenstarken Newsportal arbeitet „Hey U, ihr sucht doch immer neue Trends. Ich habe in den letzten Wochen eine Taskforce geleitet, die an Zukunftstrends arbeitet. Wir sind noch in der Analyse, aber das hier haben wir schon. Würde ich Dir gerne exklusiv geben für die ersten zwei Stunden, geht offiziell erst gegen 15.00 Uhr bei uns raus. Demnächst mal wieder Biergarten? T.O.“

Donnerstag, 11.34 Uhr, München

U.G öffnet die Mail und antwortet „Danke, geht gleich raus, ich mache nur ne andere Headline. Biergarten gerne! U.“ Er kürzt den Text um 90% und nimmt als Überschrift „Facebook auf der Verliererstrasse – Jugendliche laufen in Scharen zu anderen Diensten“. Danach veröffentlicht er den Artikel im Portal und teilt ihn bei Facebook, Twitter, Google+.

Donnerstag, 11.38 Uhr, Deutschland

In verschiedenen Newsredaktionen wird der Artikel gelesen. Ressortleiter weisen ihre Mitarbeiter an, der Sache nach zu gehen. Der sechs Monate alte Artikel des frustrierten, ehemaligen Facebook Mitarbeiters wird hundertfach angeklickt. Mehrere Seiten greifen das Thema auf und titeln „Facebook ohne Jugend“ oder „Die Krise des Giganten“. Dazu gibt es Klickstrecken mit dem Titel „Die 10 besten Alternativen für Facebook“.

Donnerstag, 12.14 Uhr, Berlin

Der freiberufliche Social Media Berater W.L. sieht bei Facebook den von U.G. geschriebenen Artikel und teilt ihn. Er kommentiert „Das sage ich meinen Kunden schon seit Monaten, Facebook ist eine Sackgasse. Ich habe im übrigen noch Kapazitäten frei, gerne RT.“ Mehrere Freunde teilen seinen geteilten Beitrag.

Donnerstag, 14.39 Uhr, München

M.L. liest mehrere Artikel zum Thema und verfasst einen länglichen Facebook Eintrag zum Thema „Warum Content Marketing wichtiger ist als Facebook“. Innerhalb von einer Stunde erhält der Eintrag 67 Kommentare, in denen diskutiert wird, ob Facebook nicht sowieso Content-Marketing ist und das Jugendliche sowieso eine volatile Zielgruppe seien, weil die Early Adopter unter ihnen nur wenig Einfluss auf die late majority haben. Jemand schreibt etwas über Chemtrials.

Donnerstag, 15.24 Uhr, Fürth

Der „Postillion“ veröffentlicht einen Artikel mit dem Titel „Facebook vor dem Aus – Teenager wollen lieber Seilspringen“. Der Artikel wird binnen Sekunden 29652mal auf Facebook und Twitter geteilt.

Donnerstag, 15.45 Uhr, München

J.U, Inhaber einer Beratungsagentur veröffentlicht hektisch ein Facebook Posting. „Wie sie die Krise bei Facebook meistern – wir helfen ihnen gerne“.

Donnerstag, 15.47 Uhr, Deutschland

Unzählige andere Beratungsagenturen schreiben ebenfalls gleichlautende Einträge.

Donnerstag, 15.51 Uhr, Hamburg

Seit einer knappen Stunde kann sich die Pressestelle bei Facebook nicht vor Anfragen zum Thema „Facebook & Jugendliche“ retten. Man überlegt eine eigene Pressemeldung heraus zu geben. Zuvor schreibt Facebook Mitarbeiter H.H. auf Facebook „Och, Kinners…“

Donnerstag, 16.12 Uhr, Deutschland

In hunderten Mailaccounts findet sich das Schreiben einer PR-Agentur aus Köln. „Facebook mag tot sein, aber wir haben die Lösung“. In Text findet sich ein Hinweis auf das Produkt eines Hochdruckreinigers. „Vergessen sie Facebook, der Garten wartet auf sie.“

Donnerstag, 16.35 Uhr, Berlin

Buzzfeed Deutschland veröffentlicht ein Listical „15 Dinge die wir an Facebook vermissen werden. In Gifs.“

Donnerstag, 16.46 Uhr, Berlin

Der einzige Mitarbeiter einer völlig unbekannten Dating-App schreibt auf Twitter „Facebook ist tot? Klar, die Leute wollen eh nur ficken, das können sie besser bei uns [Link zur App]“. Der ehemalige Politiker C.L. retweetet es, die App wird innerhalb von Sekunden 28903mal runter geladen.

Donnerstag, 17.34 Uhr, Hamburg

Die Pressemitteilung von Facebook erscheint per Mail. Man habe keine signifikanten Rückgänge bei den Nutzerzahlen von Jugendlichen. Im Gegenteil, in Schwellenländern sei man da ganz weit vorne. Die Klickrate der Mail liegt bei 0.03%.

Donnerstag, 18.12 Uhr, Hamburg

Berater N.L. kündigt per Twitter an „Morgen in meiner Bild-Kolumne: Warum Facebook nicht tot ist und Deutschland mehr Facebook braucht.“

Donnerstag 18.13 Uhr, München

FAZ Autor D.A. veröffentlicht eine Kolumne, in der er beschreibt, dass die Anwohner des Tegernsees wegen der schönen Landschaft und zeitaufwändigen Vermögensverwaltung eh keine Zeit für Facebook haben.

Donnerstag, 18.15 Uhr, Düsseldorf

T.K. veröffentlich einen Artikel, in dem er darüber schreibt, dass ihm Verlagsmitarbeiter schon vor Jahren gesagt hätten, dass Facebook untergehen wird. Das wird aber nicht der Fall sein weil…. tl;dr

Donnerstag, 23.43 Uhr, München

Der Journalist R.G. veröffentlicht einen Google Hangout in dem er mit dem US-Medienexperten J.J. über die Zukunft von Facebook spricht und die Frage stellt, ob Apple da nicht wieder richtigen Riecher hatte Social Media zu ignorieren.

Die nächsten sechs Wochen, Deutschland

Social Media Mitarbeiter erhalten eine Mail: „Hier, dachte der Link könnte Dich interessieren. Hab ja immer gesagt, mach was vernünftiges! Mami“

2 Antworten zu „Wie ein Trending Topic entsteht“

  1. Petersen

    Hast du dein Weed wiedergefunden? Sehr guter Text.

  2. Sehr interessante Aufschlüsselung, für Menschen, die sich mit solchen Prozessen wenig bis gar nicht beschäftigen