Vor 10 Jahren – Teil 1

Ich blogge ja schon ein wenig länger (so seit 2001), da sammelt sich das ein oder andere an. Warum nicht ein wenig alte Texte entstauben, dachte ich heute in meinem (mittelprächtig verkaterten) Kopf. 10 Jahre, das ist im Internetzeitgefühl quasi Gurkenglas ganz unten. Also gibt es jetzt in ab und an einen Blick in die Vergangenheit.

Eine der merkwürdigsten Frauen, die ich jemals kennengelernt habe, war eine Frau aus Ostfriesland. Also, ich glaube, dass sie aus Ostfriesland war. Muss auf einer Sause in der „Daniela Bar“ in Hamburg gewesen sein. Auf jeden Fall tanzte sie irgendwann barfuß auf der Theke und kickte mit ihrem großen rechten Zeh, der wirklich sehr groß und lang war, die Aschenbecher runter. Der riesige Zeh stand in überhaupt keinem proportionalen Zusammenhang zu den anderen Zehen, die daneben verkümmert wirkten. Aber ich finde solche kleinen Fehler der Natur ja erotisch.

Die Thekenmannschaft nahm alles begeistert zu Kenntnis, und die drei Sinti mit dicken Bäuchen, die gerade was Ungarisches spielten auch. Sie sägten sich den Teufel aus dem Leib und sie da oben machte das Gleiche, nur tanzend. Ich war völlig fasziniert von diesen beiden riesigen großen Zehen, die vor mir auf der Theke tapsten. Wir kamen ins Gespräch, mir war nach mehr, ihr nicht. Küsschen links, Küsschen rechts, gute Nacht.

Zwei Abende später tanzte sie mit dem Besitzer einer Sofakneipe zu Aznavour und Gainsbourg und bei „Bönnie änd Kleide“ ließ sie ihren Pullover über den Kopf kreisen. So exaltiert sie schien: Reden war nicht so ihr Ding. Sie saß/stand lieber rum, saugte an einem halben Liter Jever, beobachtete über den Bierflaschenhals die Leute, strich sich eine Strähne hinters Ohr, keckerte plötzlich los, verschwand an die Bar, oder zog sich die Schuhe aus, um zu tanzen. Wir trafen uns immer nur in den Läden, nie davor. Wenn wir uns sahen, sagten wir „Hallo“, „N Bier?“, „Super hier“ und „Noch n Bier?“ Wenn sie betrunken wurde, sagte sie in einem Anfall von Wortschatzfund „Boah, muss nach Hause. Sehen wir uns morgen? Oder SMS, ja? Schüss.“

Deswegen hab ich mich nie getraut mir ihr Essen zu gehen. Ich hatte immer Angst, dass kein Gespräch entstehen, und ich mich vor lauter Fremd- und Eigenscham um Kopf und Kragen reden würde. So hab ich leider verschiedene Dinge nie rausbekommen: zum Beispiel ihren Nachnamen. Oder wie alt sie eigentlich war. Oder was sie so im Leben machte. Oder warum sie sich mit mir dauernd im Mojo traf. Gut, manche Menschen finden andere Menschen bei sich im Bett wieder, von denen wissen sie noch viel weniger. Noch nicht mal die Handynummer.

Manchmal schrieb sie nachts eine SMS, die ging dann so:

Sie: Noch wach?
Ich: Ja. Alles gut bei Dir?

Antwort bekam man selten. Sie wollte nur wissen, ob man es einem gut geht. Dass einem gut ging, leitete sie wohl aus der Tatsache ab, dass man antwortete. Wenn man nachmittags eine SMS bekam, dann waren das immer Anweisungen. „Heute Mojo 11“. Telefonieren hatte ich bei ihr nach zwei Versuchen aufgegeben.

Nach einem langem Mojoabend passierte dann mal was. Sommer, die Sonne war auch schon da. Mit Bier bewaffnet saßen wir auf einer Mauer über dem Hafen nebeneinander und sagten Sachen wie „Guma, Schiff“ oder „Geil son morgen“. Das erschien mir insgesamt der richtige Zeitpunkt unsere Kommunikation mal auf ein höheres Niveau einzupegeln. Nach vier oder fünf gemeinsam durchfeierten Nächten und mindestens zwei Kisten Jever hatte ich das Gefühl, dass man die Zeit, die man miteinander verbringt und in der man nicht miteinander redet, vielleicht auch knutschend verbringen könnte.

Aber nach ein paar weiteren Gedanken habe ich alle Ambitionen fallen gelassen. Weil mir auffiel, wie angenehm sich das anfühlte, mit ihr, die ebenso schräg wie still war, durch die Gegend zu ziehen. Kein belangloses Reden, kein „Schau mal, was ich alles gemacht habe“ Gehabe. Jeder emotionale Vorstoß schien mir völlig unangebracht, und so, als ob ich etwas sehr Zerbrechliches kaputtmachen würde. Diese stille Sitzen auf der Mauer, das langsame, gemeinsame Abkühlen, das Knirschen der Bierflaschenböden, wenn man sie auf dem Mauerrand absetzte, das Schnappen des Feuerzeugs – all das war ein wundervoller, einzigartiger Moment. Ich hätte sie nicht küssen können, geschweige denn sie anfassen. Ihre Nicht-Kommunikation barg ein Geheimnis und ich war nicht gewillt es zu lüften. Aus Angst etwas zu zerstören vielleicht, oder aus Furcht, dahinter verberge sich am Ende doch nur etwas banales. Ich hab sie lieber noch zur S-Bahn gebracht und gewartet, bis ihre Bahn losfuhr, um dann langsam zu Fuß nach Hause zu gehen.

Wir sind über ein halbes Jahr immer mal wieder ausgegangen und irgendwann, als wir mal wieder völlig verschwitzt aus dem Mojo kamen, sagte sie „Ich zieh nächste Woche nach Bremen“. Pause. Dann: „Warst der netteste Kerl, den ich hier kennengelernt hab.“ Pause. „Schade“. Küsschen links, Küsschen rechts. Eine sehr lange, feste Umarmung. Und ward nicht mehr gesehen.

5 Antworten zu „Vor 10 Jahren – Teil 1“

  1. „Guma, Schiff.

    Schön. So schön!

  2. Zum ersten mal was von dir gelesen und gleich das Blog abonniert. Mehr solche Geschichten bitte!

  3. Großartig!
    (… und nach 10 Jahren kann man das Ding wenigstens flattrn.)

  4. DasKleineTeilchen

    Eine sehr lange, feste Umarmung. Und ward nicht mehr gesehen.

    jaha, sowas kenn ich. mit nichts aufzuwiegen und schmerzhaft aber schön.