Paranoid

Die ganze NSA-Affäre hat mich erstaunlich kalt gelassen. Mehr als eine „Aha, na ja, war ja klar“ Gedankenblase hat sich da zunächst nicht geformt, nur ganz weit unten im Hinterkopf saß mein inneres Rumpelstilzchen und polterte ein wenig vor sich hin. Die Sache mit der Privatsphäre und der Post-Privacy-Diskussion plätschert ja schon ermattet etwas länger vor sich hin, dass verschiedene Geheimdienste verschiedener Länder auf ja nun zum großen Teil unverschlüsselten Daten zugreifen, ist ja eher eine Selbstverständlichkeit. Informationen zu sammeln ist ja genau das, was ein Geheimdienst machen per definitionem machen soll, warum sollte man ausgerechnet hier halt machen? Das wäre ungefähr so, als würde man zehn polyamore Berliner Blogger beiderlei Geschlechts mit einem Kasten Bier in einem Raum zu sperren, mit der Ansage, man dürfe weder die anderen noch den Kasten Bier anfassen. Also abwegig.

Aber mal ernsthaft: Seit Jahren werden Daten von Konto- und Flugbewegungen einzelner Menschen gespeichert und unter anderem auch in die USA geschickt. Einwohnermeldeämter verkaufen seit Jahrzehnten ihre Daten an den meistbietenden und wer glaubt, dass diese Firmen nur Adresshandel damit betreiben, sollte vielleicht noch mal nachdenken. Aber am Ende ist es nicht die Weitergabe und die Speicherung der Daten, die mir Sorgen macht. Es ist die Frage, welche Motivation eigentlich dahinter steckt. Warum hat die Versessenheit auf Kontrolle dazu geführt, dass man 200 Jahre Kampf um die Freiheit über Bord wirft?

Sicherlich, die Anschläge des 11. September waren in ihrer Monstrosität bisher (und hoffentlich auch in Zukunft) einmalig und haben in den USA einen Schock ausgelöst. Die daraus resultierende Ängstlichkeit vor weiteren Anschlägen ist nachvollziehbar. Dass man versucht, sich abzusichern, zu schützen, ist ein normales Verhalten. Die Überwachungsparanoia betrifft bei Weitem ja nicht nur die USA, sondern auch viele andere Staaten, auch in Europa. Nach den Erfahrungen der letzten Wochen würde es mich auch nicht überraschen, wenn inländische Geheimdienste ähnliche Programme haben. Oder auf Personen setzen, die Zugang zu diesen Informationen haben. Oder glaubt einer, dass V-Leute nur in der NPD sitzen?

Wenn man sich die Folien anschaut und schaut, wie viele Behörden in den USA in die Überwachung, Datenverwaltung und Analyse verwickelt sind, ist es eigentlich überraschend, dass es erst jetzt einen Whistleblower gegeben hat. Gemäß dem alten Satz, dass man nichts mehr geheim halten kann, wenn mehr als drei Leute eingeweiht sind, hätte die Überwachung schon viel früher herauskommen müssen.

Was mich neben der offensichtlich tiefsitzenden paranoiden Grundhaltung und der Erkenntnis, dass es ja irgendwann rauskommen musste an der ganzen Sache überrascht, ist die Heftigkeit, mit der reagiert wird. Schadensbegrenzung wird ja kaum oder nur marginal betrieben, stattdessen reagiert man so, als habe man irgendjemand anders beim Unrecht ertappt. Nicht man selbst ist der Angreifer, sondern man wurde angegriffen, weil jemand eine, zumindest nach außen hin, geheime Datensammelaktion verraten hat. Der Gedanke, dass die Sammlung der Daten vielleicht unrechtmäßig sein könnte, scheint dabei überhaupt keine Rolle zu spielen, weil das Unrecht ein gutes Recht eines Staates ist, da er sich ja gegen mögliche Angriffe wehren muss. Ich habe das Gefühl, als würde ich einem Hypochonder dabei zusehen, wie er langsam in den Wahnsinn abdriftet, weil er Angst davor hat, wahnsinnig zu werden.

Da schließt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel an, und wohin diese Verhältnismäßigkeit eigentlich gerutscht ist. Was passiert eigentlich, wenn wirklich mal was Ernstes passiert? Die Empörungsfähigkeit mancher Staaten (und ich meine damit nicht die USA alleine) scheint sich nur noch zwischen „Übermäßig durchdrehend“ und „Komplett wahnsinnig“ zu bewegen. Das ist in China so, dass hat Russland gezeigt, das sieht man in Ansätzen auch in der Türkei. Und es ist mir ein großes Rätsel, woher diese Hyperventilation eigentlich kommt. Was hat sich in der Wahrnehmung der letzten Jahre so verschoben, dass man so reagiert? Warum führen sich Behörden und Obrigkeiten in den letzten Jahren immer mehr auf, als seien sie ein cholerischer Übervater, der seine Schützlinge erst mal verprügeln muss, bevor er mit ihnen redet?

Eine andere Sache, die in diesem Zusammenhang interessant sein könnte, ist ein Gedankenspiel. Was wäre eigentlich passiert, wenn ein Russe oder Chinese gekommen wäre, der darüber berichtet, wie sehr Russland oder China den Internetverkehr abhören. Was wäre passiert, wenn ein Russe oder Chinese deswegen um Asyl gebeten hätte?

Dieses Gedankenspiel führt mich dann an den Punkt, dass die Unterschiede zwischen den Staaten und Systemen immer mehr zu verwischen. Auch so eine Erkenntnis, die vermutlich etwas braucht, bis man sie wirklich verstanden hat. Was am Ende bei mir im Moment bleibt, ist das dumpfe, kaum zu beschreibende Gefühl, dass sich gerade irgendetwas massiv verändert und mein Verständnis von „Recht“ und „Freiheit“ damit nicht klarkommt. Und es ist ein Gefühl dunkler Vorahnungen, dass die Dinge sich weiter zum Schlechteren verschieben können.

7 Antworten zu „Paranoid“

  1. […] Don Dahlmann schreibt auch sehr Gutes und Wahres zum Thema. Besser als ich. Wen […]

  2. Alle machen immer alles, was sie können und dass Geheimdienste alles abhören, was sie abhören können steht in deren Jobbeschreibung. Da steht allerdings auch, dass man die Fresse hält. Da muss man nicht gleich denken, dass alles immer schlimmer wird nur weil ein Stück Scheiße grad mal kurz oben schwimmt. Dass alles immer schlimmer wird hat, seit es Menschen gibt, noch jeder gesagt, je älter er wird; danach kommt direkt die „früher war alles besser“-Phase. Aber, vielleicht tröstlich: am Ende ist man da, wo Curt Bois 1981 sagte: „Angst vorm Tod? Nein, das hab ich nicht. Überhaupt nicht. Das hätt ich früher nie geglaubt – aber es kommt ein Moment, wo man absolut müde wird und sagt: ’nun will ich nicht mehr’“.

  3. Das gibt’s auch als Bewegtbild: http://youtu.be/Oj3465P2zAo

  4. hCsoLf

    Und wo würde uns das Gedankenspiel hinbringen, wenn nicht solch eine „große“ Nation,
    sondern etwa seinerzeit noch der Irak und heutzutage Syrien mit solchen Machenschaften
    enttarnt worden wäre?

    Und dabei gibt mir nicht der potentielle Asylantrag eines Whisleblowers zu denken, sondern
    die Reaktionen der „freiheitlich, demokratischen Staaten“.
    Liege ich weit daneben, wenn dann mehr geschehen würde, als dass nur nach „umfassender
    Aufklärung“ geschrien wird, wie im Fall unseres „befreundeten Landes“?

  5. Petersen

    Die gegenwärtig häufig anzutreffende Gleichgültigkeit gegenüber der gigantischen Spionage-Aktion wird sich schlagartig ändern, sobald die erspähten Informationen gegen die Abgehörten angewendet werden.

  6. Gerd

    Das erschreckendste an allem ist die Gleichgültigkeit, mit der das alles als unabwendbar hingenommen wird. Auch kommt es mir so vor, als ob sich jeder erstmal virtuell umdreht bevor irgendwas zur Sache gesagt wird. Anders als bei der Stasi, wo der böse Nachbar der Verräter war, ist es jetzt jeder selber. Selber schuld wer was nicht-mainstream-konformes ins Internet schreibt. Selber schuld, wer als Whistleblower was aufdeckt, was keiner wissen soll. Selber schuld, wer nicht dran denkt, was die falsche Meinung für Folgen haben kann.
    Wir brauchen nicht mehr Zagar und Evans müde zu belächeln, wir kämpfen schon längst gegen die Maschinen, die jeden Schritt von uns überwachen und wissen nicht mehr, wer sie bedient. Vielleicht tun wir noch nicht mal mehr das und haben den Kampf schon längst aufgegeben. Vielleicht haben die meisten noch nicht mal gekämpft, weil alles so schön bunt ist hier.